Der FC St. Pauli ist dem Abstiegsgespenst in der abgelaufenen Saison gerade noch von der Schippe gesprungen. Die Nerven aufzehrende Relegation zur dritten Liga konnte vermieden werden. Das gemeinschaftliche Aufatmen am Millerntor scheint aber nicht dazu geführt zu haben, dass nun weniger konzentriert zu Werke gegangen wird, im Gegenteil: der FC St. Pauli wirkt zu Beginn der neuen Saison kompakt und lässt sich schwer bespielen, wie es im Fußballjournalisten-Jargon neuerdings heißt. Dabei hatte man mit dem euphorisierten Neuling Arminia Bielefeld und Beinahe-Aufsteiger Karlsruher SC zwei schwere Gegner zum Auftakt. Mit vier von sechs möglichen Punkten ist der Start in diese wegweisende Saison weitgehend geglückt. Und nu?
Seinen Ausgang nimmt diese Hoffnung machende Mannschaftsleistung im Dezember des letzten Jahres, kurz vor Weihnachten. Der FC St. Pauli steht auf einem direkten Abstiegsplatz. Mit einer waghalsigen Rochade wechselt das erst einige Wochen zuvor gewählte Präsidium um Oke Göttlich Trainer und Sportchef gleichzeitig aus. Der bisherige Chefcoach Meggle beerbt Sportchef Azzouzi und wird von der Gladbacher Fußballikone Ewald Lienen ersetzt.
Letzterem gelingt es in Rekordzeit, sich in die Herzen der Fans zu arbeiten und augenscheinlich erreicht er auch die Spieler des FC St. Pauli. Trotz des knappen Ausgangs, belegen die Kiezkicker in der Rückrundentabelle einen beeindruckenden sechsten Platz. Auffällig ist hierbei, dass die Abwehr um Sören Gonther und Lasse Sobiech weniger als 20 Gegentore zulässt. Dies gelingt außer den Boys in Brown nur noch den drei besten Mannschaften der zweiten Liga im Jahr 2015.
Die Verpflichtung des Innenverteidigers Sobiech vom Stadtrivalen HSV ist für mich deswegen die Schlüsselverpflichtung der Saison. Lienen setzt weiter auf eine starke Defensive, aus der heraus der FC St. Pauli seine Angriffe startet. Mit einer geradezu kreativ besetzten Mittelfeldachse setzt der Kult-Trainer auf flexibles und überfallartiges Umschalten bei Ballgewinn. Eine Übung, die immer besser gelingt.
Dem Mittelfeld-Trio Enis Alushi, Sebastian Maier und Marc Rzatkowski fällt hier eine Schlüsselrolle zu: alle drei warten seit einiger Zeit auf den Durchbruch im Trikot des Hamburger Stadtmeisters. Wenn es ihnen diese Saison gelingt, ihre hervorragende Defensivarbeit um ein präzises und überraschendes Offensivspiel zu erweitern, dann bekommen gegnerische Abwehrreihen Probleme St. Pauli auszurechnen und die Stürmer genug Futter.
Wobei wir bei der Achillesferse des FC St. Pauli wären: der Sturm. Lennart Thy ist derzeit der einzige nominelle Stürmer, der so etwas, wie Torgefahr ausstrahlt. Und auch er verzieht häufig aussichtsreich vor dem Tor. Verhoek ist derzeit nur Ersatz, Youngster Choi noch zu unbeständig und die ewige Hoffnung, dass sich der teure Einkauf des Kroaten Ante Budimir in Buden ummünzen lässt, schwindet zusehends.
Bislang machen die Verteidiger die Tore. Bleibt das so, dass St. Pauli seine Spiele über starke Standards gewinnt, oder berappeln sich die St. Pauli Stürmer endlich, dann traue ich dieser Mannschaft einen einstelligen Tabellenplatz zu. Wahrscheinlich werden wir uns in dieser Saison vor allem vor der Euphorie hüten müssen: für einen Aufstieg ist es nämlich viel zu früh. Und das Präsidium des FC St. Pauli ist gut beraten, die Fehler ihrer Vorgänger nicht zu wiederholen und zu ambitioniert gesteckte Ziele auszurufen. Alles in allem erwarte ich eine herrlich langweilige Saison, die auf dem achten Rang endet.
Dies ist ein Beitrag, dessen Inhalt Vorlage zu einem Artikel bei Zeit Online war.
Bloß keine Euphorie! – mein Saisonausblick 2015/16
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