Friede den Kutten

Der Sonnabend des letzten Bundesliga-Heimspiels der alten Nordtribüne war gefühlt gerade angebrochen, als ich mich um kurz nach 9:00 Uhr gen Millerntor aufmachte. Der erste herbstliche Sprühregen nieselte mir ins Gesicht, als ich im Fanladen auf eine Abordnung der ‚Hamburger Originale‘ traf: zur Aussprache über die homophoben und sexistischen Sticker und meinen Blogbeitrag dazu.
Es wurde eine intensive Aussprache; vorweg will ich die sehr befriedigende Erkenntnis teilen, dass wir mit dem Fanladen und dem Fanclubsprecherrat (FCSR) tolle Institutionen haben, die einen geschützten Raum bieten, solche Konflikte zu lösen.

Vor einigen Tagen habe ich mit befreundeten St. Paulianerinnen noch einmal die Tage der Sozialromantik-Proteste Revue passieren lassen. Wir schwelgten zusammen ein wenig in Erinnerungen, immer noch beeindruckt davon, dass sich die Protestform, im Internet angeheizt, schlussendlich in diesem roten Fahnenmeer im realen Millerntor manifestierte – das erste Mal, dass eine Bewegung aus dem digitalen Raum so wuchtig in unser Stadion schwappte.
Da konnte ich noch nicht ahnen, dass das auch für andere Protestwellen gilt und dass die Sticker-Protestwelle, wegen der wir nun im Fanarchiv zusammen saßen, offenkundig eine schlimme Eigendynamik angenommen hatte: die Empörung über die Sticker auf G.’s Kutte schwappte rüber aus den sozialen Medien und wuchs zu einer realen „Jagd auf Kutten“ rund ums Stadion.
„Lasst die Kutten in Ruhe“
Schnell war klar, wir reden hier über zwei Phänomene mit den beiden Vertreterinnen des Fanladen, Tilman vom FCSR und G. und zwei weiteren „Hamburger Originalen“: Die Sticker selbst und den Prozess, wie die Empörung darüber sich verselbstständigt hatte.
Sticker auf Kutten, das lernte ich bei dieser Gelegenheit auch, sind so etwas, wie das persönliche Museum des Trägers. Sticker wandern bei Auswärtsniederlagen, erinnerungswürdigen Gelagen oder wichtigen Siegen auf die Kutte und manifestieren einen Moment; der homophobe Sticker gegen den BVB bspw. hatte vor mehr als zehn Jahren den Weg über einen Schalker auf G.’s Kutte gefunden. Längst hatte er aufgehört über jeden einzelnen nachzudenken.
Bis letzte Woche sich das Bild von seiner Kutte über die Fanseite des „Aktionsbündnisses gegen Homophobie und Sexismus“ bei Facebook durch die sozialen Medien in meinen Blog und weiter in die Fanschaft verbreitete und letztlich zu dieser intensiv streitenden Runde führte.
G. hat seine Kutte von den beanstandeten Stickern befreit und wir vereinbarten, dass wir in Zukunft direkt oder über den Fanladen solche Themen zwischen St. Paulianern besprechen.
Kutten und Originale will ich mir von den Hügeln des Millerntors nicht wegwünschen, es ging und geht mir allein um die Sticker und das, was sie auslösen bei von Diskriminierung Betroffenen.
Ich habe in dem Gespräch noch einmal deutlich gemacht, dass Homophobie und Sexismus keine exklusiven Probleme der Kuttenträger_innen sind, keine der Nordkurve, sondern welche, bei denen wir uns alle vor dem eigenen Wellenbrecher ‚grade‘ machen müssen – im übertragenen und friedlichen Sinn, wie an diesem klammen Sonnabend am Millerntor.
Als wir uns die Hand gaben überreichte mir G. einen der beanstandeten Sticker – und ich weiss, was das für eine wichtige Geste unter Kuttenträgern ist.
Vielleicht macht es Sinn, diese Episode im 1910 e.V., dem Museum für den FC St. Pauli, zu bewahren – als einen der kleinen Schritte, die zusammen irgendwann das ganze Millerntor zu einem ‚Safe Place‘ für alle St. Paulianer_innen und ihre Gäste macht.

Sticker schwuler schwuler BVB
Titelfoto: Symbolbild Kutten am Millerntor

In