Amazing

Das war wirklich ein besonderer Moment, als gestern beim Kesselbraunweisses zu Love Newkirks Zugabe unser Fafa Picault zu ‚Amazing Grace‘ sich das Mikro schnappte. Da gingen Christopher Avevor vor Freude und Staunen die Augen auf. Und Jeremy Dudziak hätte am liebsten mitgespielt.
Einzigartig, was diese Frau mit ihrem Soul mit diesem Verein macht. Magisch. Wenn also diese drei plötzlich anfangen ihre Gegner leichtgehend zu dominieren, dann lag das auch an diesem traumhaften und stiftenden Moment.

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„Ein Kessel Buntes“ war die Antwort der DDR auf die große Samstagabendunterhaltung des Westdeutschen Fernsehens in den Siebzigerjahren, bummelig ein Jahrzehnt, bevor der FC St. Pauli sich auf die Reise begab, die ihn bis dorthin geführt hat, wo er heute ist.
Es war eine Revue, die ein wenig spießig und putzig zugleich war, in seiner realsozialistischen Homogenität anheimelnd und gemütlich. Am Freitag fand das braun-weiße Gegenstück statt, der fünfte „Kessel Braun-weißes“, eine Revue, die das putzig-spießige, das ein Verein in Deutschland eben hat – auch der FC St. Pauli, mit vielen Sprenkeln bemerkenswerter Vielfalt mischte.
Ein Potpourri aus lustigen Reminiszenzen, die an Dalli-Klick bspw.; oder die an Studio Braun, nur diesmal ohne Torten und Erdlöcher-Rauchen, sondern mit Honig und Jogi-Imitator – „Denkt man sich die Totenköpfe weg wäre das absolut Heizdeckenfahrt-tauglich“, raunt W. mir zu; und ja, vieles wirkt so wundersam konserviert in diesem älter gewordenen Publikum und wird doch bestrahlt von allerlei Dazugestoßenen – den in gelb-rot auflaufenden, selbstbewussten Kickern vom FC Lampedusa Hamburg, die zu RAP-Reimen von 187 performten und in mir den Wunsch verstärken, ebendiesen St. Paulianer hier einmal live hören zu können.

ADN-ZB /Franke/ 1.11.89: Berlin: 100. "Kessel Buntes" am 23.9.1989 im Palast der Republik Helga Hanemann - vielseitige Unterhaltungskünstlerin - stellte am Anfang der Sendung den unmittelbaren Kontakt zum Publikaum her.
ADN-ZB /Franke/ 1.11.89: Berlin: 100. „Kessel Buntes“ am 23.9.1989 im Palast der Republik
Helga Hanemann – vielseitige Unterhaltungskünstlerin – stellte am Anfang der Sendung den unmittelbaren Kontakt zum Publikaum her.

Aber selbst wenn der zusagte, würde man sich vermutlich nicht trauen, den Kessel (das Wort war irgendwie in Hamburg auch mal anders besetzt) zu öffnen. Oder irre ich mich da?
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Moment mal, wieso klingt das denn alles so negativ? Ich habe mich doch gut amüsiert? Außerdem ist das ein echter Ritt, solch einen Abend vorzubereiten. Ist das hier nicht ein wenig undankbar?
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Vielleicht bin ich so komisch ambivalent diesem Abend gegenüber, weil ich gesehen habe, wie der FC St. Pauli sein kann, wenn er den starren düsteren Mantel auszieht, den 25 Jahre Punkrock verschlissen haben. Was auch mit den Boys in Brown passiert, wenn stimmgewaltiger Soul in sie fließt.
Der Auftritt meiner alten Kollegin Love Newkirk, Hamburgs Soul-Sängerin von Weltrang, hat mich wieder einmal bezaubert, so wie beim ersten „Fußball und Liebe Festival“. Und als sie mich fragte, ob sie hier „Amazing Grace“ als Zugabe spielen könne, da hatte sie die Ambivalenz von St. Pauli ja schon durchdrungen und Spieler, wie Avevor und Jeremy Dudziak – zusammen mit uns allen in ihren Bann gezogen. Da wurde plötzlich aus einem Abend der Pflicht ein Miteinander, eine Kür von Seele, die Punkrock nicht herzustellen vermag – noch nie konnte.
„Da kommt man zum fünften Mal hierher, sieht all die vertrauten Gesichter, die immer auftauchen in diesem Verein, und dann passiert sowas magisches“, schwärmt eine Freundin auf dem Nachhauseweg. Da habe ich diesen Text schon im Kopf und befürchte, dass man mich missverstehen wird. Dabei honoriere ich die ganze Mühe, wirklich, sehr – aber ich kann nicht gegen dieses Gefühl an, diese Idee davon, wie St. Pauli sein könnte, würden die alten weißen Männer – auch ich – ein wenig öfter beiseite treten. 😉
Ich bin ja erst in der fünften Ausgabe dazu gestoßen, und wenn der „Kessel Braun-weißes“ es dem Original nachmacht (der bunte Kessel hat mehr als 100 Folgen er- und eine Wiedervereinigung überlebt), dann ist ja noch viel Zeit und Platz da, sich weiter zu entwickeln.

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