Ewald Lienen und die großen, großen Kleinigkeiten

Nach dem Heimspiel gegen Aue bin ich noch lange durch das Viertel gestrichen, habe viele liebe Millerntor-Bekannte getroffen. Das singuläre Thema des Abends: Ewald Lienen und der Zustand der Boys in Brown, die neun Tage nach Saisonstart die rote Laterne fest umschlossen halten – und das Schlimmste – auch so spielen, als wollten sie sie auch nicht wieder loslassen. Schuld an der Misere, so fasste es M. gut zusammen, seien die „vielen großen, großen Kleinigkeiten“.

Einige der Kleinigkeiten will ich hier mal kurz kommentieren:

  1. Viele Verletzte
  2. Kein adäquater Ersatz für die Abgänge auf der „Sechs“, vor allem Marc Rzatkowski
  3. Die Schiedsrichter
  4. Pech
  5. Ewald Lienen

Alle verletzt

Die Seuche ereilte beinahe jeden im Dress des FC St. Pauli, der gerade auf dem Weg zu Normalform war, neben unseren offensiven Hoffnungsträgern Miyaichi und Fafá Picault auch die gesamte Defensive mit Ziereis, Gonther, Sobiech und seit Freitag nu auch noch Bouhaddouz und Nehrig. Das ist bitter und bestimmt eine der Hauptursachen für das zerfahrene Spiel der Jungs, die Spieltag für Spieltag neu zusammen gewürfelt auflaufen müssen.
14650713_10154099042739423_8566805978829958964_nDummerweise geht das erstmal nicht weg – Ewald Lienen wird weiter rotieren und experimentieren müssen, denn das Lazarett ist überfüllt. Mich erinnert die Situation so stark an den Herbst vor zwei Jahren, dass sich die Bilder von Okan Kurt geradezu drüber legen, über die von diesem Jahr: Lienen wird seine Talente Litka und auch Dudziak weiter im kalten Wasser strampeln lassen müssen. Wenn wir Glück haben, bleiben sie mit dem Kopf über Wasser, wenn wir gaaanz großes Glück haben, beginnen sie in der aufgewühlten See zu schwimmen.

Ach, Ratsche

Ich gebe es gerne zu: ich habe mir zwar gedacht, dass Ratsche schwer zu ersetzen sein würde, dass sich die Situation auf der „Sechs“ aber so katastrophal darstellt, überrascht mich doch. Dem Trainerteam ist es nicht gelungen, diese Lücke zu schließen, schlimmer noch, durch die Konzentration der Gegner auf Buchtmann musste plötzlich Bernd Nehrig das Spiel eröffnen, was gehörig in die Hose ging. Die Folge: Sobota und Co. hingen voll in der Luft. Dummerweise funzte die Alternative auch nicht, dann eben über schnelle und energische Außen zu kommen, was an der krassen Formschwäche von Buballa sehr deutlich wird.

„So blieb im Mittelfeld ein großes Verbindungsloch, das nur sporadisch von den nominellen Flügeln besetzt war“ (Spielverlagerung)

Wenn man dann auch noch verlernt hat, per Standard zu treffen, kann man eben die immer wieder auch vorhandenen exquisiten 20 Minuten Überlegenheit nicht nutzen. Wenn sich dann der eingewechselte Cenk Sahin immer wieder in die gegnerische Abwehr fräst, nur um darin hängen zu bleiben und tödliche Konter auszulösen, versteht man Ewalds Aussage, dass die Jungs beinahe alle so spielen, als hätten sie vergessen, wie Fußball geht.
In der 70. Minute noch hatte ich keinen Zweifel daran, dass wir das Spiel gegen Aue gewinnen würden, doch dann spielten die Boys in Brown plötzlich, als wäre die Nachspielzeit angebrochen. Sie wurden ungeduldig, noch ungenauer und hektisch. Die Analyse der ‚Spielverlagerung‘ deckt sich da mit meinen Beobachtungen – die mir besonders bei Christopher Buchtmann auffallen: „Es wirkt teilweise so, als wollten die (St., Anmerkung des Autors) Paulianer unbedingt immer Aktivität und Engagement zeigen, würden das aber zu sehr erzwingen und dann unnötig aufgedreht werden.“
Anders, als bei anderen Mannschaften in Braunweiss, scheint es mir nicht so, dass sie nicht könnten, und das macht das Mitansehen so traurig.

Schiris mögen St. Pauli nicht

Als Supporter brauche ich keine Statistik zu bemühen, um das Augenfällige zu bemerken: Schiedsrichter mögen St. Pauli nicht. Damit wäre alles gesagt, denn ob sie nun unterbewusst gegen uns pfeifen oder mit Vorsatz, ist im Ergebnis eigentlich egal. Irgendwas haben wir an uns, das bei Formalautoritäten die Nackenhaare steift. 😉

„Wir wurden vom Schiedsrichter vorgeführt“, Ewald Lienen (schon 2015 😉

Pech

„Geht der Ball in Stuttgart nicht vom Innenpfosten in einem Bogen doch noch ins Tor, sieht die Saison ganz anders aus“, hat Willi Freitag Abend resümiert und ja, bei all der fußballerischen Cholera kommt auch noch Pech dazu.

Ewald Lienen

„Der ist doch schon weg“, sagt mir ein guter Bekannter aus B. im Klubheim, meiner dritten Station auf meiner Frust-Tour rund ums Millerntor und meinte Ewald Lienen. Ich wollte das nicht glauben und schrieb zu Sicherheit eine SMS ans Präsidium, jetzt bloß nicht überzureagieren. Das war zwar doppelt sinnlos, zum Einen weil das Präsidium bei seinen Entscheidungen nicht auf meinen Input angewiesen ist und Zweitens, weil es bisher noch keine hektischen Entscheidungen getroffen hat – war mir aber ein Bedürfnis.

Ich möchte nicht, dass Ewald diese Woche oder nächste entlassen wird.

Mir fiele nun auch niemand ein, der es adhoc besser machen könnte – auch Peter Neururer nicht 😉
Kurioserweise, scheinen die Mannschaften von Ewald Lienen regelmäßig nach zwei Jahren in ein Loch zu fallen. In Köln verließ ihn das Glück in der zweiten Saison nach dem Aufstieg, in Rostock und Duisburg wurde er ebenfalls nach bummelig zwei Jahren entlassen. War da die Luft raus, seine Magie am Ende?, oder ist das ein Tal, durch das man mit ihm einfach mal hindurchschreiten muss?
St. Pauli wäre der erste Verein, der das „Lienen-Loch“ mit ihm gemeinsam durchschreiten würde, hielte man weiter stoisch die Reihen zusammen. Spätestens beim Auswärtsspiel gegen Sandhausen wird sich zeigen, wie robust die Reepen auf dem Kiez gedreht sind. Ich bin bereit noch eine Schippe Vertrauen nachzulegen, damit es nicht nur qualmt im Kader, sondern lodert. Wenn wir gaanz viel Glück haben, fängt das Feuer der Lust auch im Abstiegskampf wieder an zu brennen. Um mich zu erinnern, wie heiß das auf unseren Gesichtern glühen kann, brauche ich kein Deja-vu. 🙂

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