Que(e)r über alle Kurven – Quo Vadis Sankt Pauli?

Hamburg – St. Pauli, 22-3-2011 um 08:15 Uhr
Gegengerade vorm Hells Bells

St. Pauli ist eine der innovativsten Fanszenen der Welt. Der einzigartige Ruf des Vereines und seiner Anhänger ist in den 80er und 90er Jahren aus dem Nichts geschaffen worden und von der Fanszene begründet worden. St. Pauli war damals Vorreiter und Vorbild vieler neuer Entwicklungen in Deutschland und in der Welt. Und heute? Wie ist eigentlich der Stand? Wie geht es weiter? Quo Vadis Sankt Pauli?

Ich bin naiv. Manchmal komme ich dem einen oder anderen sogar ein wenig einfältig vor, wenn es um den FC St. Pauli geht. Ich hege eine romantische Beziehung zu einem Fußballverein. Schon eigenwillig.
Dabei geht es mir gar nicht so sehr um Fußball, was die einen verwirrt, andere beinahe in den Wahnsinn treibt, die mit dem, was St. Paulis Fans geschaffen haben, Geld verdienen sollen. Ehrlich, ich möchte Gernots Job nicht haben. Nicht in der ersten Bundesliga, nicht jetzt und auch nicht morgen. Der Mann muss nämlich verstehen was merkwürdige Menschen wie mich antreibt und es übersetzen, in eine Welt, der ich mich ja zu entziehen versuche und die ich in meinem St. Pauli als Eindringling wahrnehme. Die Welt des Marktes und der Zwänge, die sich aus Strukturen ergeben, die man allgemein Profisport nennt.
Gernot, das mutmaße ich, nimmt mich als notwendiges Übel wahr. Anstatt mich zu umarmen, fühlt er sich angegriffen, wenn ich seine Probleme nicht zu den meinigen mache. Und dabei vergißt er vielleicht oft, weswegen er sich das antut. Ich versuche mal, ihm das zu aufzuzeigen, was für mich der Kern meines Sankt Pauli ist …

Gegengerade - Singing Area
Gegengerade – Singing Area

St. Pauli mischt sich ein

Auf einer Auswärtsfahrt kann man mit ein wenig Glück Dinge erleben, die St. Pauli ausmachen (und schreckliche Beispiele dafür, was schief gehen kann, wenn nur noch das Motto regiert). Augsburg 2009: die Stadt in der wir lange nicht mehr werden gewinnen können (ja, mir graut es vor einem Relegationsspiel dort). St. Pauli Fans aus ganz Bayern reisen an, ich bin auch darunter.
Zwei ältere Herren aus Hamburg auch. Wir unterhalten uns über die erstaunliche Vielfalt an Dialekten, die unsere Lieder singen – und die Schattenseiten dieses Booms. Von München aus kommend, haben die beiden im gleichen Wagon das U-Bahn-Lied vernehmen müssen – und der Sänger, der lallend da sich einschrie, trug unsere Farben. Da haben die beiden rüstigen Paulianer ihn am nächsten Bahnhof rausgeschmissen; unter Aufbringung all ihrer Autorität. Das Totenkopf-T-Shirt musste er auch ausziehen.
Er hat es nicht verstanden, wahrscheinlich bis heute nicht, wie sie mutmaßen, als wir dasitzen und immer noch fassungslos sind. „Anders sein zu wollen, ist da ein häufiger Antrieb“, sagt der ältere von uns – darauf einigen wir uns küchenpsychologisch – irgendwie anders sein, um den Preis, dass der Grund verschwindet hinter dem Krawall. „Wir waren anders, weil wir“ – damals noch Punker, ergänzt er grinsend – „die Gästekurve sauber gemacht haben, Müll aufgesammelt haben in selbst mitgebrachten Mülltüten.“ Das machte Eindruck, das war wirklich anders.
Eine gelassene aber bestimmte Fröhlichkeit, die aus einem Selbstverständnis entspringt, das klar ist, sich nicht zu ernst nimmt und anders sein als vielfältige Möglichkeit ansieht, Utopien ein wenig in die Bereiche zu tragen, die sie am nötigsten haben.
Ein „HSV ist Scheisse“ fällt übrigens bei dieser Prüfung durch – mit Einmischen hat das nix zu tun 😉

St. Pauli ist vielfältig


Der FC St. Pauli ist ein Fußballverein, er hat Kurven und Geraden, die alle etwas vereint. Und doch trennt sie vieles, die Nord und die Südkurve, die Gegengerade und die Haupttribüne. Mir wird das Geklüngel und das Abgrenzen der Stadiongegenden langsam zu viel. Ein schlimmes Beispiel für Kurvenklüngelei ist die Frage der Business Seats – deren Rückbau unterstützt USP bspw. nur, wenn zuerst die Business Seats auf der Süd zurückgebaut werden. Die Alteingesessenen an den Rändern der Haupt wollen den VIP-Klotz in ihrer Mitte loswerden. So wird das nix. Und es verstärkt die Separierung von Fangruppen. Vielfalt muss man aber managen – und dazu gehört, imho, das farbenfrohe Mischen aller Eigenschaften über alle Kurven hinweg.

»Ein wichtiger erster Schritt wäre, die Vielfalt auf die Tribünen zu tragen, also Diversity bspw. auch auf der Haupt herzustellen. Dann braucht man auch keine Benimm-Fibeln mehr, wenn Migrantenkids mit rückenkranken Hartz4-Empfängern und beschwipsten Sparkassenangestellten zusammenstehen oder sitzen. Mein Vorschlag zu Rückbau oder Verteilung von nicht verkauften Business Seats wäre dazu vielleicht geeignet “Kontextualisierung im Rahmen der Viertelkultur und deren Geschichte (herzustellen) – vielleicht ist das Know How des Herrn Dr. Spies ja dazu angetan, da andere Akzente zu setzen, als sie in den weichgewaschenen Neujahrserklärungen des Präsidums zu lesen waren.”« – vgl. Vielheit St. Pauli

Vielfalt als Konzept bedeutet für mich, Ideen, wie Frauen-Quoten offen gegenüber zu sein. Vielfalt auf St. Pauli bedeutet auch, über das „weiße Vergreisen“ der Gegengerade, nicht nur im Alten Stamm und Support nachzudenken. Wieso finden sich dort so wenig Migranten aus St. Pauli, die Homies von Nate57 und Konsorten?
Revolvierende Stehplatz-Kontingente, drei Heimspiele Nord, dann Gegengerade und schließlich Süd – eine Hinrunde um das Stadion – als Idee: das würde Borniertheit, wie ich sie auf der Gegengeraden manchmal finde, entgegenwirken. Die Grünen haben das mal Rotationsprinzip genannt.

USP*

Und nu Gernot, will ich Dir erklären, wieso das alles besser zu verkaufen geht, als der Schrott, den ihr als Business-Pakete anbietet: weil es das bei Bayer 04 Leverkusen oder Bayern München, bei Chelsea und selbst bei Union Berlin nicht gibt. Derselbe Grund, der Manager nach Alaska lockt, um sich dort zu erden und aufzuladen mit Sinn und Magie, der zieht auch Sponsoren an, wie Licht die Motten. Wenn ich höre, dass sogar Sponsoren von anderen Vereinen, wie Hannover 96 sich mit Auswärts-Karten für den FCSP brüsten, dann ist das Potenzial enorm.
Die meisten Romantiker, die sich da Spieltag für Spieltag, Saison für Saison auf die Ränge stellen und setzen, kommen nicht wegen des schmackhaften Fußballs. Manchmal kommen sie wegen des Biers und der Stadionwurst, ehrlich, das ist ok. Aber viele kommen wegen des Versprechens, hier ein paar Stunden Utopien zu leben, aus sich herauszukommen und Magie am Werke zu sehen, die man selbst mit verursacht. Und deswegen kommen die Sponsoren auch.
Bottom-up
Lebt Vermarktung von unten nach oben. Lasst jeden Sponsor spüren, dass er etwas besonderes beizutragen hat, damit die Magie stärker wird und nicht erstickt wird, wie Pommes in Majonäse. Ein paar unsortierte Ideen:

  • Keine Fußball-Übertragung in den Ballsälen während der Spiele – Stattdessen ein Hinweis, dass das echte Leben draussen stattfindet.
  • Jeder Sponsor gibt 10% seines Engagements in eine Stiftung, die Projekte im Stadtteil oder Verein unterstützt.
  • … weitere Vorschläge bitte in die Kommentare …

Das Sankt Pauli, das ich mir vorstelle, positioniert sich deutlich gegen Gentrifizierung im Stadtteil, ist bewusst kein einfacher Fußballverein, hat während meiner Lebensspanne keine ausgelagerte Profi-GmbH. Und wenn ich Glück habe, dann erlebe ich einen Spieltag, an dem ich als weißer Heteromann in meinem Block die Minderheit stelle.

Sankt Pauli zieht die Herzen an
Egal woher sie kommen
Sankt Pauli Familie bietet Freundschaft an
Hier wird man aufgenommen

Ich schließe mit Günter Peine

* unique selling proposition, im Marketing für das Alleinstellungsmerkmal
** Aufruf zur Bloggeraktion bei MagischerFC

In