RadioAktive Fanszene

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In seiner Rede vor der Enquete Kommission des Bundestages „Internet und digitale Gesellschaft“, beschrieb Dr. Peter Kruse bereits 2011 ein Phänomen, mit dem sich auch die Fanschaft des FC St. Pauli auseinander setzen muss – ob sie will oder nicht: Sich aufschaukelnde soziale Systeme.

„Wir leben in einer Welt, in der wir die Vernetzungsdichte hochgejagt haben und dann die Spontaktivität. Und wenn dann noch eine kreisende Erregung dazu kommt, werden solche Systeme plötzlich mächtig und schaukeln sich hoch. Diese sind nicht zu kontrollieren und es ist nicht vorherzusagen, wo das Ganze passiert“

Dr. Peter Kruse

Und genau das passiert in unserer Fanschaft, immer wieder und immer intensiver, denn die Vernetzung zwischen den Gruppen nimmt zu; zwischen Teilen der Fanschaft, die bisher einigermaßen getrennt waren, wie die sich selbst so bezeichnende „Aktive Fanszene“ und dem Rest.

Dabei ist es unmöglich, vorherzusagen, welcher Vorgang, welche Erregung sich zu einem Sturm aufbaut. Nur eines ist meiner Ansicht nach klar: benimmt man sich wie einst Gerhard Schröder und versucht seine Deutungsmacht mit Ignoranz und einem Basta zu zementieren, macht man Konflikte schlimmer; schlimmer, als sie sein müssten.

„2019 muss eine aktive Fanszene nicht über jedes Stöckchen springen. Denn wir sind St. Pauli. Ihr könntet es werden. Aber nicht so.“

Magischer FC Blog

Das aktuellste Thema, an dem die „Aktive Fanschaft“ oder diejenigen, die sich dafür halten, auf oben beschriebene Netzwerkeffekte treffen, ist die Antwort der Supporter des FC St. Pauli auf die unsäglichen Provokationen und Aktionen des Dresdner Anhangs.

Früher ™, da war das einigermaßen überschaubar. Es gab eine kleine, geschlossene Gruppe von Aktiven, die sich in Treffen auf die Auswärtsfahrt vorbereiteten. In diese Gruppen schaute man von außen nicht hinein und herauszuschauen lohnte sich auch nicht wirklich; der Distinktionsgewinn durch Ab- und Ausgrenzung, der emotionale Lohn des Aktivismus, schmeckt eben auch in der Irgendwielinken süß.

Störungen, bspw. durch Internetfuzzis, waren da zwar lästig, aber nicht machtgefährdend.

Das ist nun anders; auf Facebook gründen sich Gruppen von St. Paulianerinnen, die spontan erregt, nach Kruses Modell, Resonanz erzeugen. Dabei spielt es keine Rolle, ob das Anliegen durchdacht, naiv oder populistisch vorgetragen wird – es erzeugt Macht. Und dies fordert die Mächtigen beim FC St. Pauli heraus.

Die sakrosankte Idee: Beim St.-Pauli-Auswärtsspiel in Dresden sollten nur Frauen im Gästeblock stehen – „als Antwort auf diese sexistischen Banner und als Zeichen für alle Frauen, die gerne ins Stadion gehen“, wie die Initiatorin es beschrieb.

Eine durchaus kontrovers diskutable Idee, um die es hier aber nicht gehen soll.

Mir geht es um die Reaktionen derer, die sich für etwas Besseres halten, um diejenigen, die meinen, dass sie Diskussionen durch ein schrödersches Basta beenden oder gar nicht erst führen müssen.

Ausgrenzen und Abkanzeln sind Formen der Gewalt

Es sind Machterhaltsreaktionen, wie sie im Buche stehen, die mich kreisförmig erregen:

  • Macht ausüben durch Ignorieren
  • Klappt das nicht wird abgewertet
  • … auf eine ominöse Laufbahn und Qualifikation hingewiesen, die man besitzen muss, um St. Paulianerin zu sein
  • Am Ende kommt es durch „Trolle in braun-weiss“ zu Beschimpfungen („Bitches“) und dem geäußerten Wunsch, dass die „Inititatorinnen das Stadion in Dresden doch bitte nicht erreichen mögen und vorher von Steinen erschlagen“.

HALLO!? MERKT IHR NOCH WAS?

Diese Debatte, wer nun so richtig St. Pauli ist und wer nicht, ist ja nicht neu – diese selbstbeweihräuchernde Herleitung des selbstbezüglichen Heldengedenkens ist es aber schon. Feiern sich wie die Pilgrim-Gründerväter und bauen mauern gegen Fanszene-Immigranten. Das ist politisch nicht harmlos.

Dabei spielt es keine Rolle, was einzelne Teilnehmer im Netzwerk St. Pauli (in Kruses Fachsprache „Nodes“ genannt) genau gesagt oder geschrieben haben, die Mitverantwortung für das, was hinten an „Hass und Hetze“ heraus kommt, tragen wir alle – vor allem wir Blogger (was ich in einem anderen Zusammenhang auch erst lernen musste)

Es klingt beinahe, wie ein Treppenwitz, dass in einem Text, in dem ausgerechnet dem Übersteiger, St. Paulis ältestem Fanzine, der Mund verboten wird, sich über das Gemackere auf der Süd (zu recht) aufgeregt, aber nicht geblickt wird, dass das synonyme Machteffekte sind.

„Und wenn wir das dann ansprechen, dann müsst ihr uns nicht den Rest des Spiels auf ziemlich niedrigem Niveau beleidigen. Verwendet das mal lieber auf die Reflexion, warum wir da nicht mitmachen und ob wir nicht vielleicht doch auch einen kleinen Punkt haben.“

http://www.magischerfc.de/wordpress/?p=9425?

Lösen kann systemische Konflikte nur die Empathie

Dr. Kruses Lösungsansatz war die „Empathie“, das wohlwollende Wahrnehmen von dem, was gerade ist.

Und zu dieser möchte ich die Fanschaft des FC St. Pauli aufrufen.

Voraussetzung dafür ist jedoch, anzuerkennen, dass es in diesem Verein, außer der Mitgliedschaft und dem Bekenntnis zu unseren Leitlinien keine weiteren Machtbefugnisse gibt. Nicht durch vergangene Leistungen, nicht durch Erscheinen auf Sitzungen und nicht durch Reichweite.

Dabei verlange ich garnicht, dass bspw. die Süd und ihre Gruppen sich mir oder anderen gegenüber erklären sollen, was sie wo planen. Nur wahrzunehmen und zu akzeptieren, dass es auch andere Aktive in diesem Netzwerk St. Pauli gibt, das kann ich verlangen.

„Wenn ich das alles vorher gewusst hätte, wäre die Idee für immer unausgesprochen geblieben!“, schrieb mir eine der Initiatorinnen – und dieses Ergebnis ist fatal für eine lebendige, vernetzte Fankultur, in der spontan eben Aktive Fanszenen entstehen, solche, die sich eurer Kontrolle entziehen!


Auschnitt: Beitrag von Prof.Dr. Peter Kruse bei der 4.Sitzung der Enquete Kommision „Internet und digitale Gesellschaft“, im Deutschen Bundestag 2011.

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