Mehr Sankt Pauli für die Profimannschaft

Als ich ans Millerntor radle, liegen schwere Gewitterwolken über Hamburg. Die Luft ist zum Schneiden dick, aber es regnet noch nicht. Seit dem Abstieg des HSV hat es nicht mehr geregnet in Hamburg, so sagt ein Facebook Meme; heute soll es aber soweit sein.

Als ich an der Südtribüne ankomme, treffe ich Maik vom ‚Der Übersteiger‘. Wir begrüßen uns und machen uns gemeinsam auf den Weg nach oben in die VIVA CON AGUA Lounge. Unser Präsident, Oke Göttlich, hat eingeladen: zur Saisonabschlußkonferenz.
Neben den Fanzines offline, wie online, sitzen Ultras und aktive Fans von der Gegengerade im Kreis. Oke hat eine Präsentation vorbereitet, deren Inhalte sich auch in den vielen Medienberichten wiederfinden, die man in den letzten Tagen lesen konnte.

Die vier Phasen einer „Scheiß-Saison“

„Die Saison hatte vier Phasen“, beginnt Oke seinen Vortrag – jeder Cheftrainer hatte derer zwo.

Phase 1: Olafs System und der gefühlte Aufstiegskader

Ich kann mich noch gut an den einen oder anderen Ausruf erinnern, als wir zu Beginn der Saison anfingen, unsere Spiele zu gewinnen (wie wir es aus der „besten Rückrunde aller Zeiten“ auch gewohnt waren). „Ich lege mich fest“, schrieb I. bspw. auf Facebook, „wir steigen auf!“
Und das hat wohl auch die Mannschaft geglaubt. Bis sie von einer schleichenden Krankheit befallen wurde, die zwei Symptome zeigt: Euphorie und Verletzungspech. Olaf Jansen versuchte zu korrigieren, verwirrte die Boys in Brown aber immer mehr, mit immer mehr Taktik. An den immer dürftigeren Ergebnissen kann man ablesen, dass es ihm und der Mannschaft nicht gelang, das Delta zwischen Euphorie und Alltag zu schließen.

Phase 2: Wenn wir verlieren, dann mit Klatsche

Olaf Jansen fing an zu verlieren. Anders als andere FCSP-Trainer vor ihm aber immer krachend. Dieser Trend kumulierte zu 0:9 Toren aus zwei Spielen (in Fürth und gg Bielefeld) – der Krug ging ein letztes Mal zum Brunnen – und brach.

Phase 3: Basics, Basics, Basics

Im Dezember übernahm dann Kauschi die völlig desolaten Jungs vom Kiez und stabilisierte die Ergebnisse. Jeder – auch Sportchef Stöver und das Präsidium (ich auch 😉 – atmeten auf. Alles schien sich auf eine Basis zu stellen, von der man vielleicht sogar noch oben angreifen und die bescheidene Saison noch zu einem versöhnlichen Abschluss bringen könnte.
Im Kühlschrank in der Lounge gibt es Fritz-Brause und -Cola. Bier (Astra) steht warm unter der Theke. Ok, das meint Oke wohl mit „zu optimierenden Prozessen“ ;). Ich stelle vier Bier in die Promokühlung und lausche weiter.
„Der Blick ging nach oben“, sagt Oke gerade, „das war verständlich, aber fatal“. Wie Nieselregen eben auch durchnässen kann, folgte die 4. Phase:

Phase 4: Dem Abstieg entgegen nieseln

In der vierten Phase offenbarte sich, was die Euphorie des Beginns, die daraus resultierenden Ansprüche in der Mannschaft und die naßkalte Realität mit dem Teamgeist anstellen: Ermattung auf ganzer Linie. Noch mehr Verletzte als vorher (Ja, der Krankenstand steigt in Organisationen, wo der Zusammenhalt fehlt, kennt jeder von seiner eigenen Arbeit)
Beim 1:1 in Kaiserslautern manifestierte sich die „Dienst nach Vorschrift“-Mentalität des einen mit einer situativen Selbstzufriedenheit von anderen zur gefühlten Katastrophe. Aber „selbst die war schwer zu greifen, immerhin hatte man ja nicht verloren“, erläutert Oke die merkwürdige Gefühlslage.
Kauschi und Stöver reagierten, setzten die Truppe auf den Pott und unter Druck. Gerade rechtzeitig, denn der Rest ist Geschichte und der Teil der Analyse, der in die Zukunft weisen soll.
Inzwischen sind die Wolken über dem Millerntor dunkelschwarz, kübelweise ergießt sich markstückgroßer Regen auf die Süd. Es plattert so laut, dass wir die Türen und Fenster schließen müssen, um uns zu verstehen.
Hell erleuchten Blitze das Stadion. Genau die richtige Atmosphäre für Schauergeschichten.

Was sich ändern soll

Auffällig viele Traumaverletzungen, so war es auch schon in der Presse zu lesen, veranlassen den FC St. Pauli dazu, in eine Rasenheizung und Physio-Expertise zu investieren. Markus, von unserem Saisonabschluss-Podcast, hatte das ja schon als Schwachstelle heraus gepickt. Da bewegt sich also in seinem Sinne etwas.

Mehr St. Pauli für die Profis

Wenn ich an diese Saison denke und schönes fühlen möchte, dann denke ich an die beiden letzten Heimspiele gegen Fürth und Bielefeld. Da war er wieder, der Roarr, für den das Millerntor berühmt ist; der die Boys in Brown beflügeln, Spiele gewinnen kann und der gestandene Innenverteidiger, wie Jahns Knoll an die Elbe zu locken in der Lage ist.
Vorausgegangen war eine intensive Beschäftigung der Fanschaft, der Geschäftsstelle und der Profis miteinander. Mal offiziell, mal informell. Spieler lasen sich Blogartikel vor, ehemalige Spieler riefen beim Sportchef an und man erkannte, dass zum St. Pauli Gefühl gar nicht viel fehlt. „Am Millerntor werden auch Grätschen abgefeiert“, referenzierte Oke dann auch meinen Wunsch nach einem „Carsten-Rothenbach-Moment“, der über die vier wichtigen Halbzeiten tragen konnte und dessen Essenzen man für die folgende Saison bewahren möchte.
Stadteilrundgang, organisierten und inoffiziellen Fandialog. „Vielleicht mal zusammen grillen“, der Verein ist offen für einen Dialog zwischen Profiabteilung, Verein und Viertel – wünscht sich mehr Sankt Pauli bei seinen Profis. Auch in der Hoffnung, dass sich das Handicap, dass man monetär nicht auf einem Auftsiegsrang spielt, durch Identifikation mindestens ausgleichen lässt.

Still lovin‘ Oke

Schritt für Schritt die „Wahrscheinlichkeit besser abzuschneiden“ erhöhen; dieser Ansatz unseres Präsidiums gefällt mir. Ich habe diese zwei Stunden intensiver Retrospektive sehr genossen und freue mich auf die nächste Saison. Wir verabschieden uns alle und rennen hinaus in den Regen. Die meisten sprinten zu ihren Autos. Ich gehe langsam zu meinem Fahrrad; bevor ich aufgeschlossen habe, bin ich pitschnass.
Befreit von Abstiegsangst und froh über die Abkühlung radele ich durch das Viertel. Der neuen Saison und einem Sommer entgegen.

Saisonabschluss Podcast anhören:

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